Samstag, 12. Mai 2012

Neubaustrecke Wendlingen-Ulm ist keine Hilfe für S-Bahn Göppingen

Die geplante S-Bahn im Landkreis Göppingen - dem bisher einzigen Landkreis der Region Stuttgart ohne S-Bahn - ist in diesen Wochen wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Man will in einigen Jahren einen Vorlaufbetrieb im Stundentakt zwischen Göppingen und Stuttgart einrichten. Ein richtiger S-Bahnbetrieb soll eingerichtet werden, wenn die Neubaustrecke (NBS) Wendlingen-Ulm in Betrieb gegangen ist.

Hier gilt es zu zeigen, dass die geplante Neubaustrecke Wendlingen-Ulm keine Hilfe für die S-Bahn im Landkreis Göppingen ist. Voraussetzung für einen richtigen S-Bahnbetrieb ist hingegen eine Herausnahme des Güterverkehrs aus den Kommunen zwischen Plochingen und Göppingen und somit ein etappierbarer Ausbau des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm, der nicht nur dem ICE-Verkehr, sondern auch dem Güterverkehr, dem Regionalverkehr und dem S-Bahnverkehr dient und der gleichzeitig die Anwohner vom Güterverkehrslärm entlastet.


Nach den bisherigen Planungen würden nach Inbetriebnahme der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm in wahrscheinlich frühestens 15 Jahren zwar die ICE zwischen Plochingen und Göppingen wegfallen. Das sind zwei Züge pro Stunde und Richtung. Der wesentlich emissionsstärkere Güterverkehr bliebe zwischen Plochingen und Göppingen jedoch erhalten. Das ist nicht nur für die Anwohner der Strecke schlecht. Das verträgt sich auch ganz schlecht mit der geplanten S-Bahn.

Die Güterzüge würden nach den bisherigen Planungen unmittelbar an den Bahnsteigkanten der S-Bahnhaltepunkte zwischen Plochingen und Göppingen vorbeifahren. Das setzt die auf den Bahnsteigen wartenden Fahrgäste nicht nur einer enormen Lärmbelastung aus. Das führt auch zu Erschütterungen und noch viel schlimmer zu einem enormen Luftsog. Denn die Güterzüge sind nicht stromlinienförmig gebaut. Sie schieben und ziehen riesige Luftmengen vor und hinter sich her. Das ist nicht nur schlecht für die Frisur der wartenden Fahrgäste. Da kann schon einmal eine nicht festgehaltene Tasche umfallen oder sogar ein nicht festgestellter Kinderwagen ins Rollen kommen.

Ein weiteres Problem ist der von den Güterzügen beanspruchte Lichtraum. Dies führt dazu, dass zumindest die in Kurven liegenden Haltestellen der zukünftigen S-Bahn nicht auf die für die Barrierefreiheit erforderliche Höhe gebracht werden können. Beim Ein- und Aussteigen in die und aus der S-Bahn werden also weiterhin Stufen zu überwinden sein.

Die geplante S-Bahn zwischen Plochingen und Göppingen ist somit ein weiterer Hinweis, die Planung und den Bau der NBS Wendlingen-Ulm jetzt zu stornieren. Statt dessen sollte man darangehen, die wichtigsten Abschnitte des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm so auszubauen, dass alle Probleme dieses Bahnkorridors beseitigt werden. Und diese wichtigsten Abschnitte sind die Geislinger Steige, wo ein 10 Kilometer langer Umfahrungstunnel erforderlich ist, sowie der Abschnitt zwischen Plochingen und Göppingen, wo ein drittes und viertes Gleis für den ICE- und den Güterverkehr in der Form von Ortsumfahrungen mit Tunneln gebaut werden muss, damit die Bestandsstrecke für den Regional- und S-Bahnverkehr frei wird.

Eines der großen Missverständnisse beim Ausbau des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm ist ja, dass dieser Korridor durchgehend und an einem Stück sofort ausgebaut werden muss. Das führte ja zur Planung der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm zusammen mit Stuttgart 21. Dabei verlangt niemand von uns Baden-Württembergern, dass die gesamte Strecke ausgebaut werden muss. Ein Ausbau an einem Stück - ein sogenanntes Alles-oder-Nichts-Projekt - ist sogar mit enormen Risiken behaftet. Da läuft man Gefahr, dass das Ganze nie oder erst am St. Nimmerleinstag fertig wird. Und bei der NBS Wendlingen-Ulm kommt hinzu, dass diese Strecke für den Güterverkehr ungeeignet ist und somit ein ungelöstes Problem für das Filstal zurücklässt.

Und es gibt noch einen anderen Zusammenhang. Eine Eisenbahnstrecke mit Mischverkehr unterscheidet sich fundamental von einem Wasserrohr. Bei einem Wasserrohr wird der mögliche Wasserdurchlass von der engsten Stelle des Rohrs bestimmt. Da können andere Teile des Rohrs einen noch so großen Durchmesser aufweisen, es kann nur so viel Wasser pro Zeiteinheit durchfließen, wie die engste Stelle im Rohr durchlässt. 

Bei einer Eisenbahnstrecke mit Mischverkehr verhält es sich anders. Ein Ausbau in bestimmten Abschnitten steigert die Leistungsfähigkeit der gesamten Strecke bereits enorm, auch wenn andere Abschnitte der Strecke zunächst noch ohne Ausbau bleiben. Konkret führt beim Bahnkorridor Stuttgart-Ulm ein Ausbau bei der Geislinger Steige (Viergleisigkeit durch den Bau eines 10 Kilometer langen Umfahrungstunnels) und ein Ausbau zwischen Plochingen und Göppingen (Viergleisigkeit durch den Bau von Ortsumfahrungen mit jeweils einem kurzen Tunnel) bereits zur gewünschten und für die nähere Zukunft benötigten Leistungszuwachs. Die anderen Abschnitte im Bahnkorridor Stuttgart-Ulm können zu einem späteren Zeitpunkt ausgebaut werden - sie müssen es aber nicht.

Und dieser Ausbau des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm in Etappen mit einer Priorität für zwei Etappen (Geislinger Steige, Plochingen-Göppingen) löst auch so nebenbei bereits alle anderen Probleme, die dieser Korridor aufweist. Dies sind:

Güterverkehr
Der Umfahrungstunnel Geislinger Steige wird den Bahnkorridor Stuttgart-Ulm wieder vollumfänglich für den Schienengüterverkehr tauglich machen. Schubloks - ein Unikum im deutschen Güterverkehrsnetz - sind dann nicht mehr erforderlich. In der Folge sind große Steigerungen beim Schienengüterverkehr in diesem Korridor zu erwarten. Es können dann auch wesentlich längere Güterzüge als heute fahren. Dies führt zu einer Zunahme der auf der Schiene transportierten Güter, ohne dass die Leistungsfähigkeit der Strecke darunter leidet. Die mit dem zunehmenden Schienengüterverkehr einhergehende Zunahme des Lärms - akut vor allem in den Kommunen zwischen Plochingen und Göppingen - wird durch die dort zu bauenden Ortsumfahrungen geheilt.

Fernverkehr
Der Fernverkehr profitiert ebenfalls von den Ausbaumaßnahmen bei der Geislinger Steige und zwischen Plochingen und Göppingen. Von diesen Ausbaumaßnahmen ist eine Beschleunigung zu erwarten, die eine Fahrzeit zwischen Stuttgart und Ulm von etwas unter 45 Minuten zulässt (heute etwas unter einer Stunde). Die zukünftige Systemfahrzeit von etwas unter 45 Minuten zwischen Stuttgart und Ulm erlaubt sowohl in Stuttgart als auch in Ulm die Einrichtung von Anschlussknoten im integralen Taktfahrplan. Die angestrebte Fahrzeit im Fernverkehr zwischen Stuttgart und Ulm von etwas weniger als 45 Minuten macht die Bahn attraktiv und konkurrenzfähig. Eine Systemfahrzeit im Fernverkehr von unter 30 Minuten zwischen Stuttgart und Ulm ist für die Attraktivität der Bahn nicht entscheidend.

Regionalverkehr
Der Regionalverkehr profitiert enorm von den genannten beiden Ausbaumaßnahmen der ersten Priorität im Bahnkorridor Stuttgart-Ulm. Die Verspätungen im Regionalverkehr werden abnehmen, ebenso die Behinderungen durch Fernzüge. Es können zukünftig mehr Regionalzüge vom Land bestellt werden.

S-Bahn
Die S-Bahn ist ein Gewinner des etappierbaren Ausbaus des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm. Zwischen Plochingen und Göppingen kann eine vollwertige neue S-Bahnstrecke mit barrierefreiem Einstieg in die Fahrzeuge gebaut werden. Der enge Taktverkehr der S-Bahn wird nicht durch Fernzüge und Güterzüge gestört, ebenso wenig die auf den Bahnsteigen wartenden Fahrgäste der S-Bahn.

Anwohner
Die Anwohner werden auf entscheidenden Abschnitten im Bahnkorridor Stuttgart-Ulm vom Bahnlärm entlastet (Bereich Geislingen, Bereich zwischen Plochingen und Göppingen). Die neu zu erstellenden Tunnels werden im Mischbetrieb von Fernzügen und Güterzügen befahren. Damit werden diese Tunnels ihren vollen Nutzen für die Anwohner entfalten.

Nicht zuletzt kann das durch den etappierbaren Ausbau des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm gegenüber der NBS Wendlingen-Ulm gesparte Geld in weitere wichtige Bahnausbauten und Engpassbeseitigungsmaßnahmen in ganz BW und auch in ganz Deutschland investiert werden.

Es bleibt also festzuhalten: die NBS Wendlingen-Ulm verhindert einen zukunftsgerichteten Ausbau des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm und lässt einen Scherbenhaufen zurück, in finanzieller, in zeitlicher und in thematischer Hinsicht. Baden-Württemberg, die Region Stuttgart und die Anrainer im Bahnkorridor Stuttgart-Ulm tun sich mit der NBS keinen Gefallen. Ein Stopp der NBS ist heute dringender denn je.

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